Sun, 03 Dec 2023 20:11:22 +0100
Lieber muministischer Rundbrief,
hier ist die versprochene Sondernummer zum Jahresende, ein echtes Sück Muminforschung. Und zwar habe ich vor einiger Zeit eine spezielle Lesung aller Mumin-Bücher vorgenommen und dabei nur darauf geachtet, inwiefern es darum um Nahrung geht. Ich weiß, Literaturforschung ist seltsam; aber es geht ja oft um das Verhältnis von Schriftsteller(-Leben) und Werk bzw. Wege zum Verständnis dessen, was einen so fasziniert und durchs Leben begleitet. Die Ergebnisse stelle ich hier heute vor. Es war wirklich nicht leicht, beim Aspekt-fokussierten Lesen zu bleiben statt abzuschweifen und sich zu amüsieren bzw. anderweitig durch die großartigen Muminbücher berührt zu werden.
In einer im Laufe des Jahres vorgenommenen Gesamtlesung aller Muminbücher, die sich über anderthalb Wochen erstreckte, fand ich insgesamt 450 Stellen, die sich auf den Themenkreis Nahrung bezogen. Diese Stellen habe ich in eine Tabelle geschrieben und Kennzeichnungen hinzugefügt, so dass sich der Befund nach verschiedenen Kriterien sortieren und so aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten lässt. Ich versuche evtl. irgendwann, die Tabelle im Virtuellen Muminforschungszentrum der Allgemeinheit zugänglich zu machen; einstweilen kann ich Interessierten das Dokument auch als Datei zusenden. Man weiß kaum, wo man anfangen soll.
Beginnen wir doch mal mit der Frage, welche Mahlzeiten es im Mumintal eigentlich gibt. Der Tag beginnt auffallend häufig erst einmal ohne Nahrungsaufnahme – ein spätes Frühstück folgt erst, wenn sich nach einigen Aktivitäten Hunger angesammelt hat. Im weiteren Tagesverlauf ist man offenbar gewohnt, dass Kaffee und Kleinigkeiten auf der Veranda zum individuellen Gerauch bereitstehen. Ein Mittagessen im eigentlichen Sinne findet nur selten statt. Die Hauptmahlzeit, zu dem sich die Bewohner des Mumintals auch üblicherweise gemeinschaftlich versammeln, ist der Quellenlage nach das Abendessen. Da es sich bei der Muminfamilie um eher unkonventionelle Wesen handelt (Buchbewohner erleben ja gezwungenermaßen mehr Besonderes als unsereins), wird bekanntlich auch häufig gepicknickt bzw. Sonderlingen ein Korb mit Nahrungsmitteln zugeschickt.
Wovon ernährt man sich? Bei den meistgenannten Nahrungsmitteln steht der Kaffee unangefochten auf Platz 1 (knapp 30 Nennungen)! Ständig gibt es ihn oder wird nach ihm verlangt. Eine häufige Zutat hierbei, aber auch in anderen Zusammenhängen, ist der Zucker, der sich in Bonbons, Kuchen, Torten, Limonade und Zuckerwatte befindet. Nicht sehr gesund, möchte man meinen. Tee liegt mit 8 Nennungen weit abgeschlagen und ist der Abendzeit zugeordnet. Recht häufig mit 14 Nennungen ist Milch, die aber mal Kindern, mal älteren Personen zugedacht wird, so dass sich kein einheitliches Bild ergibt. Saft wird noch etwas häufiger getrunken (15 Nennungen).
Als feste Nahrung dienen vor allem Brot in vielfältiger Form (ca. 25 Nennungen), Suppen (14), Hafer-/Grießbrei (9) und Pfannkuchen (8) sowie Marmeladen/Eingemachtes. Aufläufe kehren mit 4 Nennungen immerhin hier und da wieder, ebenso Eier und Eierspeisen (welche als Kraftgeber nach dem Winterschlaf gelten). Aus unserer Sicht klassisch Nahrhaftes ist im Prinzip bekannt, aber unterrepräsentiert. Das wichtigste Obst sind Äpfel (7 Nennungen), während Erbsen, Bohnen, Möhren, Nüsse, Kartoffeln, Reis und vieles andere nur ausnahmsweise Erwähnung finden. Die einzige muminspezifische Nahrung sind die berühmten Tannennadeln vor dem Winterschlaf (3 Nennungen).
Widmen wir uns nun den kritischeren Fragen... Die Mumins sind keine strengen Vegetarier, doch sie essen insgesamt wenig Fleisch, und wenn, dann in der Regel Fisch (12 Nennungen inkl. einer Hummerdose). Nur drei mal gibt es Wurst/oder Schinken auf Brot, der Alleinherrscher aus »Muminvaters wildbewegter Jugend« spendiert einmal Grillwürstchen, im letzten Muminbuch brät der Schnupferich einmal Speck vor seinem Zelt, aber damit war es das dann auch. Von dem Kotelettknochen, an dem sich die alte Tante verschluckt, wird in den »Geschichten aus dem Mumintal« nur erzählt.
Einen weiteren Blick wäre das Thema Alkohol wert – wobei ich, vielleicht im Gegensatz zu manchen anderen, übrigens nicht glaube, dass seine Erwähnung in »Kinderbüchern« kategorisch zu unterbleiben hätte; hierfür wurden die Mumin-Geschichten bereits seit den 1940ern immer wieder kritisiert. Am häufigsten ist der Apfelwein (6 Nennungen), ein ausgesprochenes Festgetränk. Ansonsten gibt es selten mal Mischgetränke (Punsch, Bowle, Grog) oder Stärkeres: Whisky für den Muminvater, Kognak für den alten Onkelschrompel im »Herbst«-Buch. Sekt kommt nur einmal im Bild vor, und ebenfalls einmal verlangt der bereits erwähnte Alleinherrscher nach Wein – offenbar ein Lebemann. Interessant vielleicht noch, dass Bier bei seinen beiden Nennungen mit Lotterleben und schlechtem Gewissen in Verbindung gebracht wird!
Nebenbei lässt sich zwischen den Zeilen entnehmen, wie in der Muminwelt Nahrung produziert wird. Über die Hälfte der knapp 20 Stellen nennt den Fischfang mit Angelrute und Netz, dagegen geraten Gemüsebeete und Obstbäume (zusammen 6 Nennungen) und das in der Familie Jansson eigentlich intensiv betriebene Pilzesammeln ins Hintertreffen. Bei der Vorratshaltung herrschen die ganz klassischen Methoden vor: Obst und Gemüse wird durch Einmachen in Gläsern konserviert, Fische werden eingesalzen, trockene Nahrung wird in der Speisekammer aufbewahrt. Bezeichnend am Rande ist die Angewohnheit des Mumintrolls, unter seinem Bett Halbverzehrtes zum späteren Gebrauch aufzubewahren (»Geschichten aus dem Mumintal«).
Hier könnte ich jetzt noch einiges über diese oder jene Gewohnheit im Zusammenhang mit Essen und Trinken hinzufügen, aber ich will Euch ja auch nicht alles vorkauen (oder -schlürfen), am besten begebt Ihr Euch mal wieder selbst auf die vergnügliche Lesereise durch die Muminbücher ;-) Für die Eiligen kläre ich hier nur noch rasch die Frage, ob es eigentlich komplette Rezepte gibt, die man nachbereiten könnte, um sich muministischer zu ernähren und damit vielleicht auch zu fühlen. Nun, bei simplen Dingen wie Pfannkuchen versteht es sich von selbst, aber danach wird es ein wenig schwierig. Die Muminbücher enthalten vier oder fünf nicht ganz eindeutige Rezepte; davon ist eines eine rote Bowle (»Eine drollige Gesellschaft«, in meiner Ausgabe Seite 174), drei weitere sind Erkältungstrünke: »Zwiebelmilch« zu Beginn von »Muminvaters wildb. Jugend«, Tee mit Johannisbeersaft im »Sturm«-Buch und eine Erkältungsmedizin aus Zucker, Ingwer, Zitrone und Johannisbeersaft im »Winter«-Buch. Zuletzt rät der Schnupferich im »Geschichten«-Buch, man solle Plötzen in feuchtem Zeitungspapier eingewickelt auf der Glut rösten, aber da kann man eigentlich nicht von Rezept sprechen.
So oder so... manchmal macht es Spaß, eine literarische Welt auch mal aus Sicht der Realität zu befragen – so lange man es nicht zu verbissen macht ;-)
Der Gedenktag der heiligen Lucia (13. Dezember) ist bei schwedischsprachen Menschen in Schweden wie in Finnland und in aller Welt ein besonderes Fest (bemerkenswerterweise bei finnischsprachigen Finnen hingegen kaum bis gar nicht), das einige ganz eigene Bräuche zu bieten hat. Da gibt es das Singen von besonderen Lucia-Liedern, und in den Familien wird die älteste Tochter zur Lucia und trägt zu einem weißen Gewand mit rotem Band um die Taille einen Kranz mit echten Kerzen im Haar. So macht man dann Auf- und Umzüge, wobei weitere Rollen mit Kindern und Jugendlichen besetzt werden, alles sehr stimmungsvoll. Von Tove Janssons Mutter Signe Hammarsten-Jansson, genannt »Ham«, existieren entsprechende Fotos aus alten Tagen.
Zum Fest gehört auch spezielles Hefegebäck, sprachlich leicht abgeschliffen als Lussekatt, Lussikatt oder Lussebollar (»Lucia-Katzen« bzw. »Lucia-Gebäckteilchen«) bezeichnet. Diese sind schön gelb durch die edle Zutat Safran, und es gibt es sie in verschiedenen geschlungenen und gedrehten Formen, die in den verschiedenen Landschaften der schwedischsprachigen Welt und in den Familien gepflegt werden. Rezepte und Anschauung gibt es im Internet reichlich, zum Beispiel hier:
https://schweden-tipp.de/recipe/lussekatter-schwedisches-weihnachtsgebaeck/
1965 schrieb Tove Jansson auf Anfrage einer Illustrierten einen Text über die Weihnachtserfahrungen ihrer eigenen Kindheit, und wie es sich fügt, haben wir dadurch von ihrer Hand eine Zeichnung, die den Unterschied zwischen den regelmäßigen reichsschwedischen und den etwas anarchisch wirkenden finnlandschwedischen »Lussikatt« zeigt, siehe Bildanhang. Wenn ich gleich den Rundbrief fertig habe, gehe ich meinen Backofen vorheizen.
Zu den Lucia-Katzen trinkt man entweder Kaffee (die Finnen sind übrigens mit 12 kg pro Kopf und Jahr die weltweit größten Kaffeekonsumenten, die Schweden folgen mit geringem Abstand; man fängt dort auch schon in wesentlich jüngerem Alter an – ab der Einschulung ist nicht allzu ungewöhnlich, man beginnt die Mumins zu verstehen), oder aber Glögi, die finnische, aufwändig komponierte Variante des Glühweins.
Vorvoriges Jahr veröffentlichte die Online-Abteilung des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel« ein sympathisch-muministisch eingebettetes Glögi-Rezept, und jetzt passt es mal, diesen Link mitzuteilen:
Dank der reichhaltigen Liste von Zutaten (darunter Blaubeersaft, Orange, ganze Mandeln, Rosinen und viele Gewürze) kann man die alkoholischen davon auch weglassen oder ersetzen, und schon dürfen die lieben Kleinen – oder wer es sonst nicht so mit »gehaltvollen« Getränken hat – mitgenießen.
Ja, dann wohl wohl bekomm's, ich wünsche frohe Feiertage und verabschiede mich bis nächstes Jahr! Es sei denn, ich sehe einige von Euch noch am Freitag, den 15. Dezember im Schiffahrtsmuseum Brake, wo ich um 18.30 Uhr eine Lesung »Winterlich-Weihnachtliches von Tove Jansson« mit Projektionen, handgemachter Musik und allem Pipapo abhalte.
Zépé
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